MAZ Potsdam 15.12.2010

INTERVIEW: „Wir waren natürlich schon vorher da“

Seit 20 Jahren mixen „44 Leningrad“ russische Volkslieder mit Punk und Ska /Jubiläumskonzert im Waschhaus
Die Potsdamer Band „44Leningrad“ feiert am Sonnabend im Waschhaus 20-jähriges Bestehen. Ulrike Eisenreich und Thilo Theo Finke waren von Anfang an dabei. Mit ihnen sprach Volker Oelschläger.


MAZ: Wofür steht Leningrad, was bedeutet Ihnen dieser Name?
Thilo Theo Finke: Es ist 20 Jahre her, dass wir uns den Namen gegeben haben. Damals wurde Leningrad in St. Petersburg zurückbenannt. Aber warum sollte dieser Name sterben? Wir sagten: Wir behalten ihn. Und deshalb – wir waren damals vier Leute – nannten wir uns „Four for Leningrad“, „Vier für Leningrad“. Später wurde daraus in Ziffern „44 Leningrad“.
Ulrike Eisenreich: Eine andere Namensidee war „Greeting from cold Omsk“.
Finke: Omsk ist eine Stadt in Südsibirien. Wir wollten einfach so tun, als kämen wir von ganz weit her.


Was macht den Reiz aus von Liedern wie „Katjuscha“ oder „Partisanen vom Amur“?
Finke: Die russische Musik ist einerseits molllastig und melancholisch, andererseits aber auch extrem kraftvoll. Beides ergibt es eine ganz eigene Mischung.
Eisenreich: Als ostdeutsche Bürger haben wir diese russische Musik ja mit der Muttermilch getrunken, und wir haben sie über die Wende hinübergerettet. Die Nostalgie kam erst später dazu. Je weiter die DDR weg war, desto mehr Nostalgie haben die Leute in uns reingedichtet. Aber das war etwas, was wir gar nicht geplant hatten.


Schwingt nicht auch Trotz mit bei dieser Art von Musik?
Finke: Sicher ist es zu Beginn auch eine Trotzreaktion gewesen. Nach der Wende guckten alle nur noch in den Westen. Wir waren die einzigen, die in Richtung Osten blickten. Und wir spielten diese Lieder auf eine andere, kecke, freche Art. Ein Jahr vorher hätte man uns vielleicht noch dafür eingesperrt. Wir haben es geschafft, eine ganz typisch östliche Geschichte mit dem Westen zu verbinden. Eine Brücke zu bauen, die es noch nicht gab.


Das erste Konzert war im Frühjahr 1990 in der damaligen Kunstfabrik in der Hermann-Elflein-Straße. Wie kam es dazu?
Eisenreich: Wir hatten in einem besetzten Haus im Holländischen Viertel unseren Probenraum. Eines Tages lief einer von der Kunstfabrik vorbei, hat uns gehört und gefragt, ob wir dort spielen wollen.
Finke: Dieses Konzert war eine Spaßnummer, aber es kam sehr gut bei den Leuten an. Wir konnten fünf Lieder damals und mussten sie dreimal spielen. Wir hatten auch noch nicht gesungen. Es war alles instrumental.


Sind Sie sich im Musikstil über die 20 Jahre treu geblieben?
Finke: Treu geblieben sind wir uns bei der russischen Folklore als Motiv. Nur haben wir das Thema angereichert mit Punkrock, mit Einflüssen von Metal bis zu Ska, Reggae und Balkanbeats. Da sind wir immer sehr variabel gewesen. Doch der Grundstock sind die russischen Volkslieder.


Haben Sie als Band mal eine richtig schwere Sinnkrise gehabt?
Eisenreich: Wir befinden uns eigentlich in einer Dauersinnkrise. Weil wir eine Hobbyband sind und alles nebenbei machen, ist das wirklich viel Arbeit. Und da wird man manchmal müde, schafft gewisse Sachen nicht, da werden die Brötchen eben kleiner gebacken, da sind wir manchmal unzufrieden, und da kriselt es auch manchmal. Aber dadurch besteht die Band auch schon so lange.
Wollten Sie als Band mal von der Musik leben können?
Eisenreich: Nein. Wir hatten mehrere Angebote. Aber wir haben alle tolle Jobs, da hat sich die Frage nicht gestellt.


Wie oft haben Sie schon in Russland gespielt?
Eisenreich: Leider noch nie. Aber eigentlich doch. Wir haben schon einmal in einer Kaserne gespielt in Brandenburg an der Havel, in einem großen Saal auf einer großen Bühne vor russischen Soldaten. Sie sind im Gleichschritt einmarschiert, zack, dann saßen sie.
Wie haben die Soldaten das Konzert aufgenommen?
Eisenreich: Sie waren etwas schockiert, einige sind rausgegangen. Aber zum Schluss wurde applaudiert.


Haben Sie auch in Potsdam noch Begegnungen mit der Sowjetarmee gehabt?
Finke: Unser erstes großes Konzert im Lindenpark war noch mit einer russischen Dixielandband als Vorband. Nach dem Konzert kam eine Frau, legte Zettel und Stift hin und fragte: Würdet ihr auch mal bei einer Privatparty spielen, ich weiß ja nicht, wie weit euer Weg ist. Und ich fragte, was sie mit dem weiten Weg meint? Mensch, wir sind aus Potsdam. Da guckte sie mich groß an und war wieder weg. Damals kannte man uns halt noch nicht und selbst die Potsdamer dachten, wir sind von irgendwo.
Eisenreich: Also wir haben schon mehrere Einladungen nach Russland bekommen. Aber es ist sehr kompliziert, da hinzukommen, und es kostet auch einfach Geld.
Finke: Es gibt auch immer wieder Einladungen aus Frankreich oder Italien, aber wir sind eben eine Amateurband, das muss man so sagen, auch wenn es ziemlich professionell rüberkommt. Wir haben einfach die Zeit und die finanziellen Mittel nicht für größere Touren.
Russische Kultur wurde vor einigen Jahre mit dem Phänomen der Russendisco erneut enorm populär. Wie haben Sie das erlebt?
Eisenreich: Wladimir Kaminer hat das bekannt gemacht bis weit in den Westen hinein. Wir waren natürlich schon vorher da, keine Frage. Aber bis dahin waren wir eher Paradiesvögel, mit denen die Leute nicht richtig was anzufangen wussten. Nach Kaminer war das dann überhaupt keine Frage mehr.


Zur Jubiläumsfeier am Sonnabend erscheint eine neue CD mit dem Besten aus 20 Jahren. Welches ist Ihr persönlicher Lieblingstitel?
Eisenreich: „O Russ moja – Oh Russland mein“.
Finke: Und da sowohl die alte, als auch die neue Version. Wir sind jetzt schon so lange auf dem Markt, dass wir uns selbst covern. Es ist schön, sagen zu können, ich kann auf mein eigenes altes Liedgut zurückgreifen und erschaffe damit etwas neues. Das ist schon verrückt.


Gibt es ein Konzert, das Ihnen in der Rückschau besonders wichtig ist?
Finke: Es gab ein Festival an der holländischen Grenze vor 30 000 Leuten. Da hatten im Jahr zuvor „Subway to Sally“ gespielt als Hauptband, und nun waren wir die Hauptband. Uns kannte dort kaum einer und die Leute sind trotzdem total abgegangen. Beim Soundcheck schon – vor der Bühne waren 10 000 Leute – begannen sie zu tanzen und zu pogen. Das war schon beeindruckend.
Eisenreich: Schön und wichtig für uns alle ist die Bunte Republik Neustadt in Dresden. Das Dresdner Publikum ist wirklich zuckersüß.
Und die Heimspiele?
Eisenreich: Konzerte in Potsdam sind schon lustig. Da siehst du den Typen, der permanent deine Straße kreuzt, auf einmal tanzen. Aber es macht Spaß. Sie sind hier gut drauf und sie haben ordentliche Tanz-Zappelbeine.

Konzert am 18. Dezember im Waschhaus, Beginn: 21 Uhr, vorab spielen die „Cellolitas“, Berlin.