Wahrschauer Magazin Nr. 60

Ungekürztes Interview mit 44 Leningrad von Patrick Weißig

In einem Land vor Wladimir Kaminer, mitten in den Wirren der deutschen Wiedervereinigung, machten sich eine handvoll junge Menschen aus Ost-Berlin auf, russische Musik zu spielen, die sie kurzerhand „Russian Speed Folk“ nannten. 20 Jahre sind seitdem vergangen- 44 LENINGRAD feiert Geburtstag, und –taaraa: sie haben sich selbst ein Geschenk gemacht. Ein Album mit ihren 17 Lieblingssongs ist entstanden. Doch bei der Auswahl um die Songs gab es so einiges Gerangel, wie die Bandurgesteine Ullli & Theo und Bassist Romu uns verrieten, denn jeder verbindet halt andere Erinnerungen und Gefühle mit den Songs...

W: Euer Jubiläumsalbum ist nun erschienen – dabei schauen die Bandmitglieder natürlich auf die letzten 20 Jahre zurück – nach welchen Kriterien habt ihr die Lieder herausgesucht? Herrschte Konsens in eurer Band über die Titelauswahl?

Ullli: Unsere neue CD „20 Jahre“ ist eigentlich ein Geburtstagsgeschenk an uns selbst. Wir haben uns um unseren 20. Jahrestag herum viel an die letzten Jahre erinnert : begeisterte Stagediver, die unzähligen Band-Bus-Kilometer, durchrockte Hotelnächte, Sonnenaufgänge nach Open-Air-Konzerten, die vielen illustren  Begegnungen nach schweißtreibenden Konzerten, die Bereicherungen durch die unterschiedlichen Musiker die uns auf diesen Wegen begleitet haben.

Diese akustischen und auch visuellen Erinnerungen wollten wir auf das Album bannen. Wir haben die 17 Besten von ca. 100 Liedern aller 7 CDs und MCs die wir bisher produziert haben, ausgewählt. Dabei gab es einiges Gerangel innerhalb der Band, denn jeder verbindet andere Erinnerungen und Gefühle mit den Titeln. Das älteste Lied auf der CD („Komm, Natascha küss mich!“)spielen wir schon seit Jahren nicht mehr, aber das Publikum wünscht es sich bei jedem Konzert, deshalb haben wir uns vor dem Geschmack des Publikums ver(ge)beugt.

W: Auf unserem aktuellen WAHRSCHAUER-Sampler seid ihr mit „Warschawjanka“ vertreten – ein Titel vom 98er Album „St. Ihlow“ – bitte gebt doch unseren LeserInnen ein paar Hintergrundinfos zu dieser Aufnahme.

Theo: „Warschawjanka“ ist natürlich immer wieder ein Evergreen und für Eure Zeitung wie gemacht (siehe Titel). Wir mögen unsere eigenen Melodien mehr aber um die Klassiker wie auch „Bella ciao“ kommt man nicht drum rum und wenn das Publikum lauthals mitsingt,  haben wir genauso unseren Spaß daran. Dieses Lied ist eines unserer Ersten. Eine typische 44 Leningrad Herangehensweise: man nehme ein traditionelles Arbeiterlied und eine priese bekannter russischer Melodien (Säbeltanz) mische dieses mit einem Schuss Punkbeat dann alles durch den Russifizierer und fertig ist der Zappelsong.

 

W: Rainald Grebe sang mal über sich und die 90er Jahre – „Ich bin ein altes Brauereipferd, aus einer vergangenen Epoche“ – wie geht es euch? Seid ihr in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts angekommen?

Theo: Wir sind alle angekommen. Danke der Nachfrage. Allerdings fahren wir immer noch mit einer alten Mercedes Wanne, bewusst mit 80Km/h durch die Lande, gemäß unserem Motto „FAMILIENAUSFLUG!“. Unsere Musik hat sich entwickelt und ist mit der Zeit vielseitiger und differenzierter geworden. Das Publikum ist auch mitgewachsen, wir haben Fans in unserem Alter, allerdings bringen die mittlerweile ihre Großgewordenen Kinder mit. Die Punks sehen immer noch so aus wie früher, sie erinnern mich immer an die Wurzeln der Band.

W: 1991 – die ehem. DDR verabschiedete sich gerade von den alten Sowjetgarden, die russische Sprache und überhaupt die gesamte ehem. Sowjetunion waren nicht gerade „sexy“ für viele Menschen. Wie kam eure Musik damals an? Wer war euer Publikum?

Ullli: Unser sozialistisches Bruderland hat sich in Luft aufgelöst,  aber die Musik haben sie uns da gelassen. Es gab viele Seiten die wir im Osten nur widerwillig akzeptiert haben, aber die russische Musik hat schon immer von der Weite und den wunderschönen Facetten  dieses riesigen Landes erzählt. Manchmal befreit man sich auch von etwas indem man es zu seinem eigenen macht.

Die ersten Jahre haben wir den Osten hoch und runter bespielt, Punker Partys, Openairs, sogar vor noch anwesenden russischen Soldaten in  Kasernen und auf dem Traditionsschiff „MIR“, das klappte wunderbar, konnten ja alle die Texte noch.

Im Westen waren wir Paradiesvögel, komische Sprache, exotisch Melodien. Die Mischung aus Punk Rhythmen und russischer Melancholie ging aber auch unseren Freunden jenseits des gefallenen antifaschistischen Schutzwalles nach spätesten 3 Liedern in die Beine. Unser Publikum war damals wie heute sehr gemischt. Russian Speed Folk spricht den jungen Punk genauso an, wie die Großmutter, die mit ihrem Enkelkind vor der Bühne wippt. Das schönste Kompliment für uns ist, wenn uns Russen, für ihre Landsleute halten.

W: Ein Name muss unausweichlich fallen – Wladimir Kaminer – er hat Russland mit deren Menschen und Lebensgefühl wieder zu einem besseren Image verholfen. Inwieweit habt ihr davon profitiert? Änderte sich von nun die Zusammensetzung eures Publikums?

Theo: Nach Kaminers Russendisco hat sich eine Menge auf dieser Ebene im Westen getan. So eine fremde Musikrichtung salonfähig zu machen, bedurfte eine Menge Überzeugungsarbeit. Ab dem Zeitpunkt mussten wir den Leuten nur das Schlagwort „Russian Speed Folk“ sagen  und schon nickten sie wissend und tanzten. Geändert hat der hype um die Russenmusik für uns nichts. Wir sind schon 10 Jahre davor mit der Balalaika durchs Land geschippert, dann ritten mal ein paar mehr Kosaken neben uns her. Jetzt ebbt die Welle langsam wieder ab, die 44 Partysahnen aus Leningrad ziehen beständig weiter. Aber Danke Kaminer! Seit deinen CDs ist diese wundervolle Kultur überall angekommen.

W: In einem anderen Interview sagt ihr, „Je weiter die DDR weg war, desto mehr Nostalgie haben die Leute in uns reingedichtet.“ – beschreibt bitte diesen Sachverhalt etwas näher.

Ullli: Je weiter die DDR in den Hintergrund rückte, desto mehr verbanden die Zuhörer unserer Musik mit ihrer eigenen Geschichte. Und somit  war unsere Musik plötzlich eine Erinnerung an diese Vergangenheit, ohne das wir es je beabsichtigt hätten. Ursprünglich haben wir Musik gemacht aus der zeitgelebten Euphorie der Wende und dem Hausbesetzer-Gefühl des „ alles ist möglich“. Zusammen mit unserem Schulrussisch wurde unsere spezielle Art der Interpretation russischer Musik aus dieser Zeit geboren. Wir haben mit dem gearbeitet, was uns 1990 direkt umgeben hat, Erinnerung und Aufbruch. Das das Publikum unsere Musik mit einem nostalgischen Gefühl verbindet, kam erst später dazu.

W: Ihr habt bislang noch nie in Russland gespielt – mich erinnert es ein wenig an Karl May – der auch nie im wilden Westen war, jedoch eine genaue Vorstellung davon hatte. Wie inspiriert ihr euch?

Ullli: Ein schöner Vergleich mit Karl May. Ich hoffe wir landen nicht wie er wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen im Knast und müssen unsere Lieder in die Zellenwand ritzen. Am Anfang waren da noch die alten Musikbücher und Liederfibeln oder die Donkosakenchor-LP meiner Oma, dazu kamen immer wieder Schnipsel und Einsprengsel von Lieblingssongs, die wir damit kombinierten.

Frische Impulse wurden auch immer von den neu hinzugekommenen Musikern eingebracht und aufgenommen. Heute schöpfen wir aus dem großen Pool osteuropäischer Musikrichtungen und arbeiten ebenso französische Chansons und amerikanischen Country mit ein. Wichtig ist uns, immer die russische Sprache und die moll-lastige Seele als Schwerpunkte in unseren Songs wieder zu finden.

W: Ihr besingt und bearbeitet in großer Leidenschaft russische Volkslieder. Doch Russland ist nun ein anderes wie vor 20 Jahren, ganz davon zu schweigen wie vor einigen hundert Jahren. Wie weit geht ihr mit dem heutigen Russland noch konform – was fasziniert euch? Und was macht euch evtl. auch Angst (auch politisch)?

Ullli: Musikalisch legen wir Wert  darauf, nicht vor einen politischen Karren gespannt zu werden. Die Assoziation, mit unseren Liedern ein Statement zu vermitteln, liegt nahe, jedoch ging es uns von Anfang an darum, Spaß und gute Laune zu verbreiten. Natürlich haben wir persönlich eine Haltung zu den politischen Gegebenheiten und beschäftigen uns durch die Musik immer wieder intensiv mit diesem Land und seinen Menschen, dennoch sind wir weit davon entfernt Parolen auszugeben.

Dieses riesige weite Land  kann  erschreckende Geschichten  hervorbringen (Menschenrechtsverletzungen, eingeschränkte Pressefreiheit etc.), auf der anderen Seite begegnen uns in Deutschland Russen mit einer  so großen herzlichen Geste und Lebensfreude, das wir uns gerne davon  eine Scheibe abschneiden.

W: Und passend zu unserem Titelthema – lieber unzensiert, als schlecht informiert – Traut ihr der offiziellen Berichterstattung, wie z.B. nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima, Libyen, Afghanistan, Tschetschenien etc. Und wenn nicht: Versucht ihr, an alternative Informationen heranzukommen? Welche Quellen nutzt ihr dabei?

Romu: Natürlich glaube ich der offiziellen Berichterstattung überKatastrophen, Kriegseinsätze  Häuserräumungen etc nicht aufs Wort: Es gibt keine neutrale Berichterstattung, die über den Informationsgehalt von "Kaninchenzüchterverein feiert Jubiläum" hinausgeht. Die Deutung von Ereignissen ist von Interessen, Zielen, Sichtweisen etc beeinflußt und kann/soll wiederum den/die EmpfängerIn der Nachricht beeinflussen. Ich persönlich versuche beispielsweise mit "indymedia", "heise-online" oder anderen kritischen Internetportalen meine Informationen über das jeweilige Ereignis zu erweitern. Trotzdem bleibt jeder youtube-clip ein Ausschnitt und nicht die "neutrale" Wahrheit.

W: Noch eine Frage zum Schwerpunktthema – Habt ihr von den Durchsuchungen und Prozessen gegen linke Buchläden/Infoläden (z.B. Schwarze Risse, Red Stuff und M99) gehört? Geht ihr selbst manchmal in diese Läden? Wie ist eure Meinung dazu?

Romu: Da beispielsweise mein Arbeitgeber auf dem gleichen Gelände wie das "Schwarze Risse" liegt, habe ich auch durchaus direkt von den Durchsuchungen mitbekommen. Da wird seit über 20 Jahren versucht, Orte alternativer Meinungsbildung und auch Vernetzung zu kriminalisieren oder zu zermürben. Ich selbst gehe mittlerweile allerdings nur noch selten in benannte Infoladen.

W: Zurück zu euch - 20 Jahre seid ihr nun unterwegs – und habt dabei nie die Musik zum Beruf gemacht. Gab es zu viele abschreckende Beispiele, wo sich Bands verstritten, auflösten, wiedervereinigten, wiederauflösten… - oder was sind die Gründe weiterhin „ordentlich“ arbeiten zu gehen?

Theo: Es gab für uns einmal ein lukratives Angebot, in einen Plattenvertrag einzusteigen, das haben wir bewusst abgelehnt.  Wir wollten unsere Autonomie erhalten, selbstbestimmt Musik machen zu können. Einer Leidenschaft nachzugehen bedeutet nicht, damit auch Geld verdienen zu müssen, das erledigen wir durch unsere Jobs. Unsere Beständigkeit besteht darin, dass wir 44Leningrad als „Liebhaberei“ betreiben. Mit den Jahren sind wir zu einer großen Familie geworden, die sich schon längst getrennt hätte, wenn sie sich täglich denselben Frühstückstisch teilen müsste.

W: In einer Presseankündigung heißt es: „44 LENINGRAD spielen so, als ob man ein russisches Estraden-Ensemble auf Drogen gesetzt hätte.“ – schöne Umschreibung. Wie haltet ihr zwei euch fit? Bei all den Drogen und dem Wodka… (hier könnte jetzt ein ;-) stehen)

Ullli: Fit, was ist das? Rein in den Bandbus, Tür zu und aufgemacht den Sekt (immerhin schon SEKT), nach ausgiebiger Tank- und Raststättenbesichtigung, Ziel erreicht – Backstagebier geentert, Busausladen - geht nicht, alle „haben Rücken“, nach dem letzten Kasten Bier, ist vor dem nächsten Kasten Bier, dazwischen – rauf auf  die Bühne. Danach, schön mit dem Veranstalter auf die gelungene Party anstoßen und:  „Hotelzimmer verwüsten“ nicht vergessen! Sonst noch Fragen?

W: Und zum (fast) Schluss natürlich noch die Frage – was als nächstes geplant ist – Tourneen, große Konzerte, ein neues Studioalbum oder gar ein ganz anderes Projekt? Und wann gibt es einmal eine Live-Platte?

Theo: Wir haben geschätzte 2 Kilometer Band-Material! Munition ist genügend da, wir brauchen Zeit und Hilfe zum Sichten. Ein Video haben wir ja schon gedreht (ist auf der aktuellen CD), auch abgehakt. Jetzt hoffen wir darauf, dass sich die ganzen Auslandseinladungen realisieren. Der größte Wunsch, wäre eine Reise zum Ursprung unserer Musik – St. Petersbrug. Ein Winter-Openair steht schon lange auf unserer to-do-Liste mit allem Schnick und Schnack: Schneemaschine , Väterchen Frost, russischen Panzern, brodelnden Samowaren und natürlich dampfende Musiker auf der Bühne, die allen einheizen.

W: Die Jubiläumsfrage: Lieber Theo, hier hast du mal die Chance, Ullli eine Frage zu stellen, die gewiss noch in keinem Interview vorgekommen ist (Gern auch ’ne Gegenfrage von Ullli an Theo).

Ullli: Was machen wir, wenn es 44Leningrad nicht mehr gibt?
Theo: Unvorstellbar! Von der Familie kann man sich doch nicht trennen!